Incubus Leben in einer Welt von Superkraft-Nutzern
Chapter 282: Blasser Spiegel
CHAPTER 282: BLASSER SPIEGEL
Die Kathedrale atmete wieder – nicht wie Lungen sich füllen oder Luft sich bewegt, sondern in einer tiefen, langsamen Bewegung, die durch die Wände drang wie eine Erinnerung, die ausatmet, wie ein Druck, der sich endlich löst, nachdem er sich zu lange gehalten hat.
Es war kein Atmen, wie Sterbliche es verstehen. Es war absichtlich; es war ein uralter Rhythmus. Es war der Klang von etwas Altem und Heiligem, das sich wieder entspannt an seinen Platz zurücklehnt.
Hoch über dem Thron verdunkelten sich die schwebenden Glasorgane, ihr seltsames, flüssigkeitsähnliches Leuchten verblasste in sich selbst, als würde es sich zum Schlafen zurückziehen.
Das wechselnde Licht, das durch das bunte Glas getanzt hatte, hörte auf zu pulsieren.
Die Augen der Kathedrale, wenn man sie so nennen konnte, blinzelten einmal – dann noch einmal – bevor sie still wurden, das Nachbild verharrte in der dicken Luft wie Rauch, der nicht verblasst.
Deacon kniete noch immer dort, wo er erschienen war – seine Position unverändert, seine Silhouette scharf gegen das stille Dämmerlicht des gerippten Bodens der Kathedrale.
Er zappelte nicht. Atmete nicht laut. Blickte nicht nach oben, um zu sehen, ob der Moment vorüber war.
Er wartete, wie er es immer tat – nicht nur auf Stille, sondern auf diese subtile Gewissheit, dass der Blick des Gottes sich absichtlich abgewandt hatte, nicht aus Langeweile.
Erst als die Luft sich leicht veränderte – weniger schwer jetzt, weniger erwartungsvoll – begann die Atmosphäre um ihn herum zu reagieren.
Unter seinen Ärmeln schimmerten Linien schwach. Siegel, die in seine Uniform eingenäht waren – nicht eingefärbt, nicht gemalt, sondern Faden für Faden in den Stoff selbst eingearbeitet – erwachten mit einem leisen Licht.
Sie waren nicht dazu gedacht, für normale Augen sichtbar zu sein. Sie leuchteten nicht so sehr, als dass sie bemerkbar wurden.
Muster, gestickt in einer Sprache älter als die Schrift, bewegten sich sanft und reagierten auf ein Signal, das keinen Ton hatte, nur Bedeutung.
Sogar die Stickerei über seiner Brust reagierte – sie kräuselte sich leicht wie ein Spiegel, der durch Gedanken gestört wird, nicht durch Bewegung.
"Ich werde den Blassen Spiegel entsenden," sagte Deacon, kaum lauter als ein Flüstern. Seine Stimme war perfekt moduliert. Nicht steif, aber gefasst. Nicht kalt, aber so präzise, dass sie sich schärfer als Stahl anfühlte.
Es bedurfte keiner Theatralik.
Der Gott, jetzt unsichtbar, aber unleugbar noch anwesend, gab kein visuelles Signal. Aber etwas im Raum – der Druck, das Gewicht, die stille Bestätigung – veränderte sich wieder.
Ein Nicken. Nicht sichtbar.
Aber bekannt.
"Lass sie schauen," murmelte die Stimme des Gottes von überall und nirgendwo, sich in den Raum einfädelnd wie Seide, die durch Glas gezogen wird.
"Und nur schauen. Wenn sie gesehen wird, muss sie verschwinden. Wenn sie gefangen wird, muss sie sterben. Dieser Faden darf nicht kontrolliert werden. Er muss sich von selbst entwirren."
Deacon senkte seinen Kopf noch tiefer, nicht aus Scham oder Unterwerfung, sondern mit der Ehrfurcht von jemandem, der nicht aus Angst dient, sondern aus Verständnis.
Es gab keinen Grund, einen Gott zu hinterfragen, der alles von oben und unten sah.
"Verstanden."
Die Kathedrale atmete noch einmal ein – diesmal leichter. Die Struktur entspannte sich, ihre Knochen lockerten sich. Der dicke Atem, der den Ort so lange still gehalten hatte, begann sich wieder zu bewegen.
Das sanfte Summen kehrte zu den Wänden zurück, nicht laut, aber stetig, wie etwas Uraltes, das aufwacht und dann beschließt, wieder zu dösen.
Das bunte Glas leuchtete wieder, aber diesmal schwach. Gedämpft. Wie die Sterne, die nach einem Blitz zurückkehren. Das Gewicht in der Luft verringerte sich. Es verschwand nicht. Aber es war nicht gefährlich.
Noch nicht.
Und dann, mit einem letzten Flüstern, das sich kaum um die Gewölbe der Kathedrale bog, kehrte die Stimme des Gottes zurück.
"Ich will alles."
Kein Donner. Keine Gewalt. Nur Klarheit.
"Gedankenmuster. Näherungsschwankungen. Emotionale Drift. Jede Reaktion dieses Jungen. Ich will wissen, wovor er sich fürchtet.
Was lässt ihn zögern? Wie schläft er? Wie denkt er über den Tod? Jedes Detail. Jeden Faden."
Deacon blinzelte nicht. Bewegte sich nicht.
"Und wenn er nicht zögert?" fragte er.
Der Gott antwortete nicht mit Worten. Es war nicht nötig.
Er hob seine unsichtbare Hand erneut, und der in der Luft schwebende Faden pulsierte. Einmal. Noch schwach. Noch leise. Aber unleugbar lebendig.
Es war genug.
Der Blasse Spiegel würde es spüren. Sie würde keine Koordinaten brauchen. Keine Karte. Nur das Signal. Das Echo. Den Puls.
Und damit erhob sich Deacon.
Er stand nicht auf.
Er verschwand nicht.
Er änderte einfach seinen Zustand – von Präsenz zu Durchgang.
Er wurde bewegungslos.
Und die Kathedrale ließ ihn gehen, als hätte sie an ihn gedacht und dann den Gedanken wie einen Seufzer freigelassen.
Der Korridor, den er betrat, war nicht aus Stein oder Metall oder Licht. Er war nicht einmal im üblichen Sinne gemacht.
Er war einfach wie ein Flur, an den sich etwas erinnerte, das zu alt war, um seine eigene Form zu kennen. Seine Wände standen nicht.
Sie schwebten. Und sie bogen sich, wann sie wollten, nicht wegen des Designs, sondern wegen der Stimmung.
Fleischlaternen säumten die Seiten.
Sie pulsierten – nicht mit Flammen, sondern mit Erinnerungen.
Jede enthielt ein Fragment einer Seele. Gefangen. Gebunden. Nicht tot. Nicht lebendig. Aber bewusst. Keine Lichter.
Keine Ornamente. Sie waren Zeugen – Augen, die vergessen hatten, wie man blinzelt, und vorgaben zu leuchten.
Sie drehten sich, als er vorbeiging.
Das taten sie immer.
Er ging unter Bögen hindurch, wo Statuen in unmöglichen Formen standen – Körper in Formen verdreht, die keine Anatomie halten konnte, Münder offen in wortlosem Lob, Gesichter mitten in der Offenbarung gefangen.
Es waren keine Skulpturen. Es waren Überreste – die Nachwirkungen eines Glaubens, der zu tief ging.
Deacon schaute sie nicht an.
Er hatte keinen Grund dazu.
Innezuhalten würde bedeuten, sich zu erinnern – und Deacon erinnerte sich nie, es sei denn, es wurde ihm befohlen.
Er erreichte die Kammer.
Nicht großartig. Nicht breit. Aber unendlich im Gefühl.
Dutzende von Spiegeln schwebten im Raum.
Keiner berührte den Boden.
Sie wurden von Fäden aufgehängt, die zu dünn waren, um sie Ketten zu nennen, zu exakt, um sie Ranken zu nennen.
Jeder hielt einen Schimmer einer Welt – Echtzeit, echte Vision, keine Aufnahmen, keine Simulation, nur Wahrheit, die von weit, weit weg reflektiert wurde.
Er trat auf einen zu, dessen Oberfläche einen sanften Schimmer von Blau und Grau hatte.
Erde-139.
Seine Hand erhob sich, flach gegen das Glas. In dem Moment, als seine Handfläche es berührte, pulsierte die Oberfläche – nicht hell, nur lebendig – eine Erkennung.
"Blasser Spiegel," sagte er.
Stille.
Dann eine Stimme.
Weiblich. Kalt. Gemessen. Nicht grausam – aber effizient. Eine Stimme, die darauf trainiert war zu schneiden, nicht zu trösten.
"Ich sehe."
"Du sollst Erde-139 beobachten," wies Deacon an. "Unser Gott verlangt Klarheit. Keine Einmischung. Kein Lärm. Dies ist keine Jagd."
Eine Pause.
Dann: "Da ist etwas in Bewegung," antwortete sie. "Schwache Präsenz. Anpassungsfähig. Möglicherweise unwissend. Aber jemand, den wir verstehen müssen."